Quantcast
Channel: Zum Projekt –Übergangsgesellschaften
Viewing all articles
Browse latest Browse all 15

Die Persönlichkeitsrechte der Verblichenen. Oder: Warum ich im Blog und in meiner Arbeit (manche) Namen anonymisiere

$
0
0

Dieser Blogbeitrag ist eine Kooperation mit meiner Kollegin Levke Harders (Universität Bielefeld), entstanden aus einem gemeinsamen Problem und gemeinsamen Diskussionen. Dieser Artikel bildet nur einen Teil unserer gemeinsamen Überlegungen ab; andere Aspekte reflektiert Levke Harders gleichzeitig auf ihrem Blog „Migration and Belonging“.

Grundschuldeintragung mit geschwärzten Namen (1886).
Eine Schwärzung der Namen wäre nicht notwendig – aber möglicherweise ist die Lesbarkeit der Namen auch nicht notwendig. Bild: Levke Harders.

Ausgangspunkt unserer gemeinsamen Überlegungen war mein Artikel im Sommer 2018 über Verirrungen und Verwirrungen in der bayerischen Verwaltung, über Verwaltungsvorgänge, die schon deshalb so kompliziert waren, „weil niemand so ganz genau wusste, wo sich die andere betroffene Gemeinde überhaupt befand“. Demgegenüber war der eigentliche Ausgangspunkt für diese Anekdote, nämlich die Bitte um Unterstützung eines kranken Jugendlichen, in den Hintergrund gerückt. Daher entschied ich mich im letzten Sommer eher spontan dazu, den Namen der betreffenden Familie abzukürzen, zu anonymisieren, auch wenn der Fall mehr als hundert Jahre zurückliegt. Diese Anonymisierung griff Levke Harders auf, und wir stiegen in einen längeren Austausch über die Frage ein, ob und wann wir personenbezogene historische Daten verfremden wollen oder sollen. Gleichzeitig unterhielt ich mich mit anderen Kolleginnen, vor allem aus der NS-Forschung, darüber, wie sie mit diesem Problem umgingen. Es zeigte sich bald: Es geht um mehr als nur um die Befolgung der Archiv- und Datenschutzgesetze, es geht um die Wahrung von Persönlichkeitsrechten.

Noch mal ganz kurz: Was sehen die Archivgesetze denn eigentlich für Regelungen vor? Es gibt sehr unterschiedliche Regelungen, denn die Archivgesetze sind Ländersache; dazu kommen Regelungen anderer europäischer Länder. Orientieren wir uns zunächst am Bundesarchivgesetz1. Der Schutz personenbezogener Daten wird im Bereich der Schutzfristen (§§ 11 und 12) geregelt. Bei eindeutig personenbezogenen Unterlagen2 gilt nicht die übliche 30-Jahres-Frist. Stattdessen muss die betreffende Person seit mindestens zehn Jahren verstorben sein, damit die Dokumente genutzt werden dürfen. Kann man das Todesdatum nicht feststellen, gilt eine Frist von 100 Jahren nach der Geburt; ist auch dieses Datum nicht festzustellen (oder nur mit „unverhältnismäßigem Aufwand“3), so endet die Schutzfrist 60 Jahre nach der Entstehung der Unterlagen. Bei besonderem (z.B. wissenschaftlichem) Interesse können diese Schutzfristen verkürzt werden; dann gibt es aber in der Regel Auflagen, wie sie in § 12, Abs. 2 BArchG festgelegt werden; z.B. wird dann die Anonymisierung verlangt. Die meisten anderen Archivgesetze haben ähnliche Regelungen, die Fristen können sich aber zum Teil stark unterscheiden.4

Dass man sich an diese Vorgaben hält, ist natürlich klar. Doch mit der Einhaltung archivalischer Ordnungen und Gesetze ist es möglicherweise nicht getan, denn es geht letztlich um Persönlichkeitsrechte, die – nicht nur im Grundgesetz – sehr hohen Schutz genießen. Die in den letzten Jahren geführten Debatten über Datenschutz, Persönlichkeitsrechte, Sichtbarkeit und das Recht auf Vergessenwerden haben dafür sensibilisiert. Gelten diese Rechte nicht auch für die Zeit vor dem digitalen Zeitalter?

Oder konkret für den Fall, um den es im letzten Jahr ging: Die Bürgermeister, Armenpflegschaftsvorsitzende und Bezirksamtsassessoren, die mit dem Fall befasst waren, waren Amtsträger und können – sollten – durchaus namentlich genannt werden. Aber was ist mit dem Jungen, der unter Epilepsie litt und deshalb in eine Anstalt eingewiesen werden sollte? Was ist mit der verarmten Familie, die um Unterstützung bat und in den Unterlagen immer wieder des amoralischen Verhaltens bezichtigt wurde? Sie haben nicht darum gebeten, in den Akten sichtbar zu werden, und auch nicht darum, dass mehr als hundert Jahre später über sie geschrieben wird. Brisant wird die ganze Sache durch meinen mikrohistorischen Ansatz, denn häufig gibt es in meinen Untersuchungsgemeinden noch Bewohner*innen mit den gleichen Namen, nahe oder entfernte Nachkommen. Sollen diese über eine einfache Internetrecherche mit den von mir sichtbar gemachten Verwandten in einer diskriminierenden Situation verknüpfbar werden, z.B. über meine Blogbeiträge oder open access-Publikationen? Das sind letztlich forschungsethische Fragen, die möglicherweise nicht eindeutig zu entscheiden sind, über die es sich aber nachzudenken lohnt.

Einen Anhaltspunkt bietet möglicherweise das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), denn es behandelt unterschiedliche Personengruppen in Anonymisierungsfragen sehr unterschiedlich.5 Letztlich unterscheidet das Gesetz zwischen Opfern (im Gesetz: Betroffene und Dritte) und Tätern (Mitarbeiter*innen und Begünstigte). Während die Opfer des Stasi-Unrechts vor weiteren Verletzungen ihrer Persönlichkeitsrechte geschützt werden sollen, werden die Persönlichkeitsrechte der Täter*innen eingeschränkt, um eine Aufarbeitung auch im konkreten Falle zu ermöglichen.6

Diese Unterscheidung könnte man auch auf andere historische Probleme übertragen. Dann würde man die aktiv Handelnden auch konkret und nicht-anonymisiert sichtbar machen, die „Objekte“ oder „Opfer“ (z.B. staatlichen) Handelns jedoch anonymisieren. Wenn es denn so einfach wäre… Denn hier wird nun eine ganz andere Baustelle sichtbar, nämlich die seit Jahrzehnten laufenden Diskussionen über Sichtbarkeit und agency derjenigen, die an der Quellenproduktion nicht beteiligt waren. Sollen diese historischen Akteure wirklich in ihrer Opferrolle verharren? Werden dann nicht längst überwunden geglaubte Unterscheidungen zwischen den „echten“ historischen Akteuren (Männern, Vertretern des Staates und des Zentrums) und den „Opfern der Geschichte“ (Frauen, Unterschichten, die Akteure in der Peripherie) wieder aufgerufen? Das wäre insbesondere bei Projekten wie meinem fatal, die mikrohistorische oder praxeologische Ansätze verwenden und eigentlich nach Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit auch derjenigen fragen, die in den etablierten Narrativen nicht im gleichen Maße vorkommen.

Vielleicht ist zunächst eine pragmatische Lösung gefragt. Welche Namen will ich anonymisieren, welche nicht? Und diese Unterscheidung kann nicht ein für alle Mal getroffen werden, sondern muss je nach Fragestellung, methodischem Ansatz, Publikationstyp und persönlicher Schwerpunktsetzung jeweils anders getroffen werden. Also: Wo ist es für mein Argument wichtig, dass die Person als Akteur über einzelne Anekdoten hinweg sichtbar ist und bleibt, etwa um Verwandtschaftssysteme deutlich zu machen – oder Machtstrukturen? Und wo brauche ich den Namen als Marker nicht, weil die Personen nur punktuell auftauchen, weil in der historischen Situation nicht freundlich mit ihnen umgesprungen wurde oder sie eher Anlass für Handlungen anderer waren. Ich frage also letztlich: Wo brauche ich den Namen der historischen Person für mein Argument? Wo ich ihn nicht brauche, kann ich ihn genauso gut weglassen.

Das hat Auswirkungen, etwa auf die schlichte Nachvollziehbarkeit meiner Ergebnisse (etwa wenn ich Aktentitel deswegen kürzen muss), aber auch auf die Erzählbarkeit. Mit solchen und anderen Vor- und Nachteilen von (Teil-)Anonymisierungen beschäftigt sich Levke Harders in ihrem Beitrag. Bitte lest doch bei ihr weiter (hier geht’s lang). Und: Wie haltet Ihr es mit diesen Fragen? Wir freuen uns über eine Diskussion mit Euch!

Empfohlene Zitation: Anette Schlimm, "Die Persönlichkeitsrechte der Verblichenen. Oder: Warum ich im Blog und in meiner Arbeit (manche) Namen anonymisiere," in: Übergangsgesellschaften. Ländliche Politik in der europäischen Moderne – ein Forschungsprojekt, 22/03/2019, https://uegg.hypotheses.org/515.
  1. BArchG, pdf unter http://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/Rechtliches/bundesarchivgesetz.pdf?__blob=publicationFile (Abruf 22.03.2019).
  2. „Archivgut […], das sich seiner Zweckbestimmung oder seinem wesentlichen Inhalt nach auf eine oder mehrere natürliche Personen bezieht“, BArchG § 11, Abs. 2.
  3. Ebd.
  4. Vgl. als guten Überblick auch Scholz, Michael: Schutzfristenbestimmung und Schutzfristenverkürzung. Fortbildungsveranstaltung der Landesfachstelle für Archive und Öffentliche Bibliotheken Brandenburg, 15. Februar 2017, Potsdam (Präsentation), https://www.fh-potsdam.de/fileadmin/user_dateien/2_studieren-FB_Infowiss/landesfachstelle/archivberatung/archivrecht/Schutzfristen.pdf (Abruf: 26.02.2019).
  5. Das liegt auch daran, dass die üblichen Sperrfristen aus den Archivgesetzen hier nicht gelten, weil die sofortige Öffnung der Akten eine wichtige Forderung der Bürgerrechtsbewegung war, um so schnell wie möglich das DDR-Unrecht aufarbeiten zu können.
  6. Vgl. dazu Förster, Joachim: Zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten. Die Verwendung von Stasi-Unterlagen durch Wissenschaft und Forschung, in: Natale, Enrico u.a. (Hg.): Datenschutz und Geschichtswissenschaften. Rückblicke und Standpunkte, Bern 2015, S. 51-57. Online: infoclio.ch, http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-co-2014 (Abruf: 22.03.2019).

Viewing all articles
Browse latest Browse all 15

Latest Images

Trending Articles





Latest Images